Anke Nies
Ich kann’s noch gar nicht glauben, aber nun bin ich schon mehr als 4 Monate in Russland. Es kommt mir immer noch so vor, als wär es gestern gewesen, als ich mit gemischten Gefühlen ins Flugzeug saß und meine Reise antrat, ohne recht zu wissen, was mich erwartet.
Doch was dann kam, war einfach nur fantastisch. In Moskau angekommen, ging es nach einem kurzen Begrüßungswochenende mit dem Zug 21 Stunden in das 1000 km entfernte Wolgograd. Ich war gleich von der Weite dieses Landes begeistert und durfte erfahren, was es bedeutet, stundenlang durch die Gegend zu fahren ohne auch nur ein Dorf, geschweige denn eine Stadt, zu sehen.
In Wolgograd angekommen, warteten bereits meine Gasteltern und meine Gastschwester auf mich, um mich herzlich in Empfang zu nehmen. Zugegeben, es war schon ein komisches Gefühl zu wissen, dass das nun für ein Jahr meine Familie sein wird. Aber ich hab mich von Anfang an dort wohl gefühlt und mit meiner Gastschwester verstehe ich mich echt super!!! Sie überlässt mir in meinem Auslandsjahr ihr Zimmer und übernachtet auf dem Sofa im Wohnzimmer!
Einer meiner ersten Eindrücke hier war, dass die Menschen total nett sind und sich sehr für uns Austauschschüler interessieren. Dieser erste Eindruck hat sich bis heute nicht geändert. Es kommt öfter vor, dass ich in der Tram oder Marschrutka wegen meines Akzents, oder wenn ich mich mit anderen AFS-Austauschschülern auf Englisch unterhalte, angesprochen werde und mir die üblichen Fragen gestellt werden, woher ich komme und was ich hier mache. Wenn ich dann darauf antworte und sage, dass ich hier als Austauschschülerin für ein Jahr bin, schauen mich die meisten mit offenen Mündern neugierig an. Die Reaktion einer älteren Dame wird mir wohl immer in Erinnerung bleiben. Sie wollte es einfach nicht glauben, dass ich aus Deutschland bin. Sie hat mich dann gefragt, ob ich, wenn ich nicht russisch bin, wenigstens russische Vorfahren hätte, da ich ja so russisch aussehen würde.
Auch in meiner Schule ist das Interesse an Ausländern immens. Jeder kennt meinen sowie Kevins Name und grüßt uns auf den Fluren. Er ist, wie ich, ein Austauschschüler, allerdings aus Italien. Anfangs war es aufgrund unserer mangelnden Sprachkenntnisse und der Schüchternheit mancher Schüler etwas schwer sich zu unterhalten. Aber es kamen immer wieder Schüler auf uns zu, die uns fragten, ob sie ein Foto mit uns machen dürften.
Zu Beginn des Schuljahres rannten die Zweitklässler Kevin und mir jeden Morgen entgegen. Wir waren dann umringt von einer ganzen Horde Kinder. Eine Zweitkläßlerin, die in unserem Nachbarhaus wohnt, war immer total stolz, wenn wir zusammen zur Schule gingen. Sie erzählte es allen anderen in der Schule, die dann total beeindruckt schauten, so nach dem Motto: Wow, du gehst mit Anke, der Deutschen, zur Schule. Sie freuten sich auch immer besonders, wenn wir zu ihnen in den Russisch Unterricht kamen. Der Nachteil dabei war, dass sie dann weniger dem Unterricht folgten, sondern die ganze Zeit damit beschäftigt waren, uns anzusehen. Inzwischen hat sich die Aufregung um uns gelegt.
Wir sind nun selbstverständlicher Teil des Schulalltags. Da ich nun auch mit der Sprache mehr vertraut bin, ist das tägliche Miteinander kein Problem mehr. Man unterhält sich über schulische und außerschulische Dinge wie Lehrer, Arbeiten, Musik, Stars, Musiker, Sport, besonders gerade die Fußball Weltmeisterschaft 2018, und über die Zukunftspläne. Dabei stelle ich fest, dass die russischen Jugendlichen sich weitaus mehr Gedanken darüber machen. Sie nehmen z.B. an verschiedenen Wettbewerben teil, um bessere Zugangsmöglichkeiten oder Stipendien für die Universitäten zu bekommen.
Jeden Tag außer sonntags habe ich Schule von 8-13 Uhr, teilweise in der 2. Klasse, um russisch zu lernen, und in der 10. Klasse. Ich fühle mich in der Schule echt total wohl, obwohl mir viele Dinge besonders am Anfang fremd und teilweise auch komisch vorkamen. So müssen alle Schüler zu Beginn der Stunde aufstehen und dürfen sich erst wieder setzen, wenn der Lehrer sie dazu auffordert. Bei schulischen Veranstaltungen, wie z.B. bei Wettbewerben, Konzerten etc. wird zu Beginn erst einmal die Nationalhymne gesungen.
Die Russen legen sehr viel Wert auf ihre Sitten und Bräuche. So ist die Höflichkeit Frauen und Mädchen gegenüber für mich vollkommen ungewohnt. Auch Kevin musste dies erst lernen. Kurz vor der Reise gibt es etwas Besonderes. Nachdem das Gepäck gepackt und die Jacken angezogen sind, setzt man sich an den Tisch, schweigt eine Minute und steht dann auf, als wäre nichts gewesen. Das soll für eine gute Reise sorgen, damit nichts passiert.
Was ich sehr an Russland liebe, ist das gute Essen. Vor allem die vielen verschiedenen Teigtaschen genieße ich. Die Füllungen dabei variieren von den unterschiedlichen Fleischsorten bis zu Kartoffelbrei. Auch die Salate, z.B. Rindfleisch, darüber Kartoffelbrei, rote Beete und obendrauf noch Granatapfel oder ein Salat aus Hühnerfleisch mit Ananas und Mayo sind lecker.
Die Personenbeförderung hier ist veraltet, aber funktioniert sehr gut und ist wirklich billig. Es gibt zum einen eine Straßenbahn wie bei uns auch und zum anderen Kleinbus-Sammeltaxis, die Marschrutki. Sie sind sehr beliebt, schnell und flexibel. Marschrutki haben keine festen Haltestellen. Man ruft dem Fahrer jeweils laut zu, wo er anhalten soll. Das Fahrtgeld wird, wenn es in diesem kleinen Bus voll ist, einfach einer fremden Person gegeben und diese reicht es weiter zum Fahrer. Das Rückgeld geht auf demselben Weg zurück, wie es nach vorne kam. Es funktioniert!
Am ersten Adventswochenende habe ich den ersten Russisch – Deutschen Weihnachtsmarkt in Wolgograd besucht. 65 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs boten 32 Hütten auf einem Parkplatz zu Füßen des berühmten Mamajew-Hügels Weihnachtsspezialitäten an. Auch in meiner Gastfamilie habe ich Vanillekipferl und Ausstecherle gebacken, die allen sehr gut geschmeckt haben.
Ein besonderes Erlebnis für mich war Neujahr, da dies hier so wie bei uns Weihnachten gefeiert wird. Als wir um 22 Uhr immer noch nicht gegessen hatten, habe ich mal nachgefragt, wann wir essen. Meine Mutter hat darauf nur total verwundert gefragt, wann wir in Deutschland essen würden, es sei doch schließlich normal, dass man um Mitternacht esse, um das neue Jahr richtig zu begrüßen.
Nun noch etwas zum Wetter. Obwohl heute schon der 2. Januar ist, hat es hier erst 2-mal geschneit und wir haben draußen immer noch um die 4°C plus. Viele Leute sagen hier, dass das bisher der wärmste Winter seit vielen Jahren ist. Dabei hatten alle, da der Sommer so heiß war, mit einem extrem kalten Winter gerechnet. Bis jetzt bin ich eigentlich ganz froh, dass es noch nicht so kalt ist. Aber weiße Weihnachten und ein weißes Neujahr wären schon schöner gewesen. Vor allem, wenn man die herrlichen Schneebilder aus Deutschland zu sehen bekommt. Naja, irgendwann wird’s bestimmt auch hier kalt.
Wenn ich bereits jetzt ein Fazit ziehen müsste, könnte ich nur sagen, dass ich jederzeit wieder herzlich gern nach Russland gehen würde. Ich habe es bisher noch keinen Tag bereut und ich möchte jeden ermutigen in ein Land zu gehen, das nicht zu den typischen Favoriten gehört. Es lohnt sich auf jeden Fall, auch wenn man vor der Reise auf Skepsis und Nichtverstehen stößt.
Ich möchte mich ganz herzlich bei allen bedanken, die mir dieses Auslandsjahr ermöglicht haben, allen voran bei meiner wundervollen Gastfamilie.
Anke Nies