China 2006/2007

Bettina Neuhauser

bettina-chinaBevor ich mit meinen paar Zeilen über mein Jahr in China beginne, möchte ich mich für jede Unterstützung im letzten Jahr vielmals bedanken. Ermöglicht wurde mir alles durch die finanzielle Unterstützung der Adolf Würth GmbH & Co. KG. Der Dank der seelischen Unterstützung während des Jahres geht besonders an meine Mutter Sabine und an Brigitte Süssenguth-Brenner(AFS- Schwäbisch Hall). Ohne diese Menschen und natürlich auch ohne viele andere wäre dieses Jahr nicht zu dem geworden, was es schließlich war! Vielen Dank!

Ich möchte nun einen kleinen Eindruck meines Lebens im letzten Jahr, 2006/2007, verschaffen, muss aber vorher auch gleich erwähnen, dass es nicht einfach ist, Erlebnisse und Erfahrungen eines ganzen Jahres in ein paar Worte und Zeilen zusammen zu fassen. Dazu kommt noch, dass ich wirklich fasziniert von China bin! „Außergewöhnlich“ ist ein Wort, mit dem – finde ich – sich China eigentlich ganz gut beschreiben lässt!

Erst aber noch kurz zu mir: Ich habe 316 Tage in China verbracht über das Schuljahr 2006/2007. Ich war in einem kleinen Ort, mit circa 600 000 Einwohnern, in Zentralchina. Die kleine Stadt heißt Xindu, liegt etwas nördlich der Hauptstadt Sichuans, Chengdu, und ist auch ein Distrikt der 3-4 Millionen Stadt Chengdu. Ich lebte das ganze Jahr über in einer Gastfamilie, musste diese aber auch zwischendurch einmal wechseln. Ich besuchte in Xindu eine chinesische Schule, versuchte dort etwas Chinesisch zu lernen, machte einige Freunde dort und natürlich wollte ich die chinesische Kultur nicht einfach so an mir vorbei ziehen lassen. Auch versuchte ich durch Reisen, mehr der Kultur Chinas zu erleben und zu verstehen!

Schule:
Die Schule war eigentlich das, was mich durch das ganze Jahr begleitete. Und ich fragte mich so oft, wie können die Chinesen das nur aushalten?! Wie kann man fünf Tage in der Woche von morgens halb acht bis abends neun Uhr zur Schule gehen und dann auch noch am Samstag Vormittag in die Schule zu kommen, ohne mit der Wimper zu zucken, zu verzweifeln oder sich zu beschweren! Wo war die Freizeit, die doch eigentlich gerade für Kinder wichtig ist?! Das soll jetzt nicht irgendwie herablassend klingen oder nur Geschwätzt sein. Ich meine das ernst. Circa 4 000 Schüler waren an meiner Schule, jeder mehr oder weniger auf dasselbe Ziel hinausstrebend. Auswendiglernen hieß es – denken ist Nebensachen, nicht die Sache der Schüler! Disziplin, Gehorsam, so viel wie möglich an Wissen in möglichst kurzer Zeit in sich hineinstopfen – das sind Faktoren, auf die es ankommt! Ich selbst ging nur von Montag bis Freitag, von acht Uhr morgens bis fünf Uhr am frühen Abend zum Unterricht. Darüber war ich sehr glücklich, so hatte ich zumindest ein wenig Freizeit, die ich oft mit meinen Gasteltern verbrachte. An ein paar seltenen Wochenenden mussten wir auch samstags und sonntags zum Unterricht in die Schule kommen, das war aber dann nur, weil wir meistens wegen eines Feiertags und somit ein paar Tagen Ferien oder schulfreien Tagen, den Unterrichtsstoff nachholen mussten, was auf die Wochenenden davor und danach verlegt wurde. Es war ein interessantes Gefühl auch am Sonntag in der Schule zu sitzen!

Eigentlich bin ich sehr gerne zur Schule gegangen. Ich konnte zwar auch am Ende noch nicht richtig im Mathe-, Physik- oder Chemieunterricht mitarbeiten, aber ich hab mir Mühe gegeben mit dem Chinesischlernen und ich hab versucht, möglichst viel von der Kultur und den vielen Eindrücken mitzunehmen. Ich hatte eigentlich viel zu wenig Zeit, um gut Chinesisch zu lernen, ich überlegte mir deshalb auch zeitweise, noch ein Jahr in China zu bleiben!?
Leider hatte ich nur wenig Zeit, mich sportlich und musikalisch zu betätigen, was dort auch erst weit hinter dem Lernen steht und somit es nicht einfach ist, etwas zu finden. Es gibt zwar auch in der Schule Gruppen, die Verschiedenes machten und anboten, aber normalerweise waren die Teilnehmer eher professionell in ihren Gebieten unterwegs, was es für mich schwer machte, mit einzusteigen!
Meine Klasse in der No.1 Middle School of Xindu war einfach toll! Ich hatte tolle Klassenkameraden und -Kameradinnen. Aber meine beste Freundin war wohl Eleonora, die Italienerin, die auch mit AFS dort war und die ich schon in den ersten drei Tagen unseres Jahres in Peking kennen gelernt hatte. Wir machten eigentlich alles zusammen: zur Schule gehen, Reisen und besonders Reden, was oft besonders wichtig war! Viele sagen, es sei besser, alleine auf der Schule zu sein, um einfach selbst Erfahrungen zu sammeln, um schneller und besser in die andere Kultur hinein zu kommen, aber das will ich nicht sagen. Ich war so oft so froh, dass ich nicht alleine dort war und, dass ich jemanden hatte, dem es ähnlich erging wie mir. Bei Problemen hielten wir zusammen, wie zwei Schwestern. Sie war mir näher, wie sonst eine Person dort. Wir hatten so viele schöne Erlebnisse gemeinsam, natürlich stritten wir auch mal, aber das gehörte auch irgendwie dazu. Sie war einfach die Person, die mich verstand und die immer da war. So hab ich gleichzeitig auch noch eine dritte Kultur kenne lernen dürfen – neben der meinigen und der chinesischen.
Die Schule war auf jeden Fall mein Aufenthaltsort Nummer 1 und ich hatte viel Spaß dort! Im Winter war sie der einzige Ort, der etwas wärmer war, da es keine Heizungen gab und im Sommer konnte man sich zwischen den kalten Steinwänden des Klassenzimmers abkühlen…!

Reisen:
Anfangs glaubte ich nicht, ich hätte noch einmal die Möglichkeit richtig zu reisen oder zumindest für ein paar Tage andere Winkel Chinas zu besuchen. Im zweiten Halbjahr versuchte ich es aber auszunutzen, dass ich nicht ganz so streng an das Besuchen des Unterrichts gebunden war. Es war mir nicht möglich alleine zu reisen, sobald die Dauer der Reise über einen Tag hinausging. Eleonora, die italienische Schülerin, und ich suchten uns somit immer volljährige Personen und Freunde, die bereit waren, die Verantwortung für die paar Tage für uns zu übernehmen. Ich glaube, das war es auch, was uns mit den vier ausländischen Lehrern unserer Schule so zusammenschweißte. Besonders die beiden jungen englischen Lehrerinnen, Clare und Sarah, nahmen uns oft mit auf ihre kleinen Reisen durch das Land. So kam ich schließlich doch noch dazu, einige Plätze in China zu Gesicht zu bekommen. Ich besuchte die größte Buddhastatue der Welt in Leshan und Berg Emei, einen der vier heiligen Berge südlich von Chengdu. Auch der Berg Qingcheng und der Damm mit dem wohl ältesten Bewässerungssystem Chinas in Dujiangyan, nicht weit von Chengdu, ließen nicht auf sich warten. Außerdem stand ich nur einige Meter entfernt von den Terrakotta Soldaten in Xi’an. Ich stand am Bund in Shanghai, auch bei Nacht und ich war auf dem AFS- Camp Anfang April in Changzhou, einer Stadt, etwas westlich und nicht weit von Shanghai. Außerdem besuchten wir Freunde in Chongqing, der wohl größten Stadt Chinas und wir vier europäischen jungen Frauen waren zusammen zehn Stunden mit dem Bus auf chinesischen Straßen in die Berge unterwegs, um schließlich an einen Ort zu kommen, wie man es sich traumhafter und schöner nicht hätte ausmalen können! Der Nationalpark Jiuzhaigou, im Norden Sichuans wartete nur darauf, dass wir seine Vielfalt und seine Schönheit zu Gesicht bekamen. Der Schnee auf den Berggipfeln glitzerte im Sonnenlicht mehrere Kilometer weit und so stark, dass man die Augen zukeifen musste, wenn man die bis zu 5000 Meter hohen Berge versuchte zu erblicken. Das Wasser der 110 Seen war klarer, als ich es je irgendwo sonst gesehen hatte und das schönste an diesem frühen Maitag war der blaue Himmel, den ich bis dahin in China kein einziges Mal so blau sehen durfte!
China ist sehr verschmutzt, das ist wahr, aber wer gut sucht, findet irgendwann auch die kleinen, versteckten Flecken Chinas, wo es himmlischer und schöner wirklich nicht sein könnte! Wenn ich jetzt zurück denke an unsere Reisen durch China, bekomme ich Sehnsucht danach. Es ist nicht unbedingt leicht ohne jegliche Chinesischkenntnisse auf eigene Faust durch China zu reisen, aber es braucht wirklich nicht viel, sich in ein Abenteuer zu stürzen!
Eines meiner Abenteuer war wohl meine Heimreise vom AFS- Camp in Changzhou nach Hause, nach Chengdu. Ich musste alleine mit dem Zug fahren – dafür wurde mir extra eine Sondergenehmigung ausgestellt, denn ich war ja ohne Begleitperson unterwegs. Niemand, der AFS- Schüler sonst fuhr wie ich mit dem Zug so weit ins Land hinein. Anfangs dachte ich, es wäre ja wirklich nichts dabei und ich wollte nach diesen schönen Tagen, mit circa 70 anderen Auslandsschülern, wie ich einer war, auch gar nicht wirklich nach Hause zurück. Aber als mein Zug in Chengdu nach 40 Stunden Fahrt einrollte, war ich richtig froh wieder nach Hause zu kommen. Ich glaube, ich war in meinem ganzen Leben noch niemals so einsam gewesen, wie ich es in diesen 40 Stunden gewesen bin! Eleonora, die mich in Chengdu am Bahnhof abholte, und ich fielen uns in die Arme, so froh waren wir beide, uns wieder zu haben. Es fühlte sich so seltsam, aber auch sehr gut an, wieder zurück zu kommen, an einen Ort, der einem so bekannt war und an dem die Leute waren, die man in den letzten Monaten kennen gelernt hatte und die die Familie und die Freunde waren – die zu Hause auf einen warteten! Ich glaube, von dem Zeitpunkt an habe ich angefangen, Xindu und Chengdu mein Zuhause zu nennen! Ich denke, das ist auch das, was das Reisen ausmacht und was daran die Freude bereitet – anschließend wieder nach Hause zurück zu kommen. Da merkt man erst, was es heißt, ein Zuhause zu haben!
Reisen macht in China auf jeden Fall sehr viel Spaß und es gibt viele wunderschöne Plätze, die für Jedermann offen für den Besuch sind!

Familie:
Ich lebte circa zweieinhalb Monate in meiner ersten Gastfamilie, bei der ich Mitte November dann ganz plötzlich, ohne plausiblen Grund, ausziehen musste. Anschließend fand ich, auf einigen „Umwegen“, mein „Glück“! Ich kam in eine Übergangsfamilie. Ich muss dazu sagen, dass ich anfangs versuchte, diese Familie nicht zu mögen! Das hatte auch einen guten Grund: Ich wusste, dass ich nach ein bis zwei Wochen die Gastfamilie erneut zu wechseln hatte und das war zu dem Zeitpunkt auch sicher. Ich wollte den Abschied für mich nicht zu schwer machen – erst kurz zuvor hatte ich wohl eines meiner schlimmsten Erlebnisse. Das plötzliche Ausziehen bei meiner ersten Gastfamilie, bei dem ich gerade mal eine Nacht Zeit hatte, meine Koffer zu packen, nahm mich ganz schön mit. Bevor ich aber nun mein „Glück“ fand, erlebte ich ein paar Tage, einer besonderen Art… Die schlimmen und seltsamen Erlebnisse wollten sich Ende November nicht von mir fern halten…
…Es hatte sich herumgesprochen, dass ich eine neue Gastfamilie suchte. So hörten auch einige Lehrer meiner Schule auf und ich bekam bald nur zu gut zu spüren, dass sich die Familie meiner Mathelehrerin schon fast als meine zukünftige Gastfamilie bezeichnete. Eine meiner damals besten Freundinnen in der Klasse kam eines Morgens zu mir und meinte, ich währe bei unserer Mathelehrerinnen zu Hause eingeladen, denn der Ehemann der Lehrerin wollte Deutsch lernen und dabei gerne von mir unterrichtet werden. Damals war mir noch nicht klar, dass es dieser Familie viel mehr darum ging mich in ihre Familie aufzunehmen, als dass ich Deutsch lehren sollte, aber das sollte ich nun spüren! Ich stimmte dem Treffen zu und ging noch am selben Tag mit dieser Freundin zum Haus der Familie unserer Mathelehrerin. Weil die Frau Lehrerin ist, wohnt sie mit ihrer Familie auf dem Grundstück der Schule, so lag ihre Wohnung auf meinem Heimweg zu meiner, damals noch, Übergangsfamilie. So kamen wir bald zu der steinernen, kalten und staubigen Treppe des Mehrfamilienhauses und gingen einige Stufen, zur Wohnung der Lehrerin und ihrer Familie, hoch. Wir wurden schon erwartet und gleich aufgefordert uns auf dem kleinen, hölzernen Sofa nieder zu lassen. Mir war von dem Moment an, in dem wir in die kleine Wohnung eintraten, irgendwie etwas mulmig gewesen. Derjenige, der am meisten an mir interessiert war, war der Ehemann der Lehrerin und sein Englisch war überraschenderweise sehr gut. Das wurde mein „Verhängnis“ in der nächsten Stunde, denn so konnte ich nicht wirklich seinen Fragen ausweichen. Mein beliebter Satz, „sorry, I don’t understand Chinese!“ war hier nicht mehr angebracht! Während sie nun alle auf mich einredeten, versuchte ich Eindrücke meiner neuen Umgebung aufzunehmen. Ich starrte ewig lang auf die kalten, dunklen und kahlen Steinwände der witzigen Wohnung und dann wanderten meine Blicke in die kleinen Zimmer, die ich vom Sofa aus sehen konnte. Die Wohnung hatte kaum Fenster und so war es sehr düster, was alles noch kälter wirken lies. Ich bekam plötzlich das komische Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Das Ehepaar und meine Freundin redeten nur so auf mich ein. Als ich auf die Fragen mit dem Deutsch unterrichten, mit Antworten wie, „ich hab doch keine Ausbildung, dazu nur sehr wenig Zeit!“ kam und damit versuchte etwas abzublocken, weil mir nicht alles so geheuer war, fielen Sätze wie, „Dann zieh doch bei uns ein!!?“ Dabei schaute ich den etwa fünf jährigen Sohn mit seiner großen Brille und dem Pflaster über einem seiner Augen an. Er tat mir wirklich Leid, aber das „Nein!“ brannte mir so auf der Zunge! Ich wusste, dass es eigentlich keinen Grund zur Hoffnung gab, dass ich länger in meiner Übergangsfamilie bleiben konnte, aber in dieser einen Stunden jenen Tages war ich so sehr von dieser Hoffnung erfüllt, dass ich sogar mit dem Argument kam, dass ich jetzt bereits eine feste Familie hätte! Ich wollte um alles in der Welt nicht bei dieser Familie einziehen! Es war nicht die Armut oder ähnliches dieser Familie, was mich so abschreckte. Es war einfach das Direkte, was ich seit einigen Wochen, eben die Zeit, die ich nun schon in China war, nicht so zu spüren bekommen hatte. Es war die Selbstüberzeugung dieser Leute, mich einfach so leicht „haben zu können“! Es waren ihre Blicke, die mich durchbohrten. Sie starrten mich unverholt an, wie es jeder andere auf der Straße genauso tat! Es mag sich vielleicht witzig anhören, oder komisch, vielleicht wie eine witzige Gruselgeschichte. Aber es ist ganz sicher kein Scherz, wenn ich sage, dass diese Momente für mich die Hölle waren. In einem fremden Land unter fremden Menschen eine solche Bedrängnis zu spüren ist alles andere als angenehm! Ich wollte unter allen Umständen nicht unhöflich sein und ich wusste, dass es in China unhöflich ist, Bitten abzulehnen und ernsthaft das „Nein!“ immer wieder zu bestärken – aber wie konnte ich sonst dort „raus kommen“?! Es war ganz sicher eines meiner stärksten Erlebnisse in dem Jahr, aber auch eines meiner schlimmsten! Ich war so froh, als die Uhr, die die steinerne Wand zu schmücken versuchte, kurz vor sechs Uhr anzeigte. So verabschiedete ich mich mit halb gespieltem Bedauern, nahm meine Sachen und verlies die Wohnung mit dem Mädchen, das mit mir dort hingekommen war. Man kann sich jetzt fragen, wie ich all das noch so genau weiß, aber es war einfach ein Erlebnis, was ich nie vergessen werde. Wenn ich mich ganz genau zurück hineinversetzte, höre ich immer noch die Rufe und Willkommensgrüße hinter mir, die sie mir nachriefen, als ich die dunkle Treppe hinunterschnellte! Ich wusste nicht genau, was da oben in dieser einen Stunde passiert war, aber ich wollte es auch gar nicht wissen! Ich fühlte mich nur schrecklich – mir war nach weinen und ich war so wütend, am meisten auf mich selbst! Ich verstand nichts mehr und ich glaube, das war einer, der wenigen Tage, an dem ich dachte: „Ich will nach Hause, zurück nach Deutschland, in mein Zimmer zu Hause und einfach alleine sein!“ Es ist ein grausliches Gefühl, diese Ferne so plötzlich zu spüren, aber es half nichts. Irgendwie musste ich auch über alles lachen, aber ab diesem Zeitpunkt machte ich einen etwas größeren Bogen um dieses Haus – ich hatte wirklich alle Lust verloren, dort noch einmal einen Fuß hinein zu setzten!
Am nächsten Tag änderte sich aber schlagartig alles! Ich hatte meiner Gastfamilie nichts von diesem Vorfall gesagt, aber als am nächsten Tag meine Betreuerin am Abend zu uns kam, sprudelte alles aus mir heraus. Sie kam, denn es war Zeit für mich ein festes Zuhause zu bekommen. Es war immer noch meine Übergangsfamilie, bei der ich wohnte und bei der ich in den letzten zwei Wochen glücklicher geworden war, wie ich es je in meiner ersten Gastfamilie war! Aber ich hatte mich darauf eingestellt und mich damit abgefunden, dass man nicht alles haben kann, was man gerne hätte.
Es waren drei neue Familien gefunden und ich erfuhr nun, dass die Familie meiner Mathematiklehrerin eine davon war. Doch es passierte genau das, wovon ich am Tag zuvor um Punkt sechs Uhr die Hoffnung verloren hatte. Ich bekam doch tatsächlich die Möglichkeit die Leute, die ich bereits angefangen hatte zu lieben, meine Familie nennen zu können. Meine damalige Übergangsfamilie meinte, sie hätten mich ebenfalls lieb gewonnen und sie würden mich gerne den Rest des Jahres bei sich behalten. Ich wäre fast in die Luft gesprungen, vor Freude! Mir wurde nun die Wahl überlassen. Ich sollte mich entscheiden, ob ich noch einmal die Familie wechseln wollte oder nicht!? Um ehrlich zu sein, dachte ich noch mal ganz kurz darüber nach, „das währe sicher noch ein Abenteuer!?“, aber dann dachte ich, dass ich in den letzten zwei Wochen eindeutig genügend Abendteuer erlebt hatte und ich fühlte mich auch gleich schlecht, denn nun hatte meine Familie bewiesen, dass sie mich mag und ich dachte im selben Moment darüber nach, sie freiwillig zu verlassen! Wie konnte ich nur! …Und so nahm ich die Möglichkeit wahr und stürzte mich wohl in das größte Abenteuer…! Ich habe nicht ein einziges Mal an meiner Wahl gezweifelt, die ganzen nächsten sieben Monate nicht! Ich war nicht weniger als eine Tochter und Schwester zu ihnen und sie waren nicht weniger als eine Familie zu mir! Sie nahmen mich mit, wenn sie bei Freunden eingeladen waren. Wir gingen zusammen aufs Land, besuchten Verwandte und wir saßen Abende lang zusammen auf dem Sofa und haben geredet. Anfangs war es nicht ganz einfach, da meine Gastschwester normalerweise in der Schule war, während ich mit meinen Gasteltern, die ausschließlich Chinesisch sprechen konnten, zu Hause war. Aber durch die Geduld meiner Gastmutter und die Fähigkeiten zum Aufmuntern meines Gastvaters lernte ich Chinesisch – auch, wenn nur langsam. Ich glaube aber, dass ich zu meiner Gastschwester, die ich immer noch nur Schwester nenne, das beste Verhältnis habe. Wir waren wirklich wie Schwestern, wir hielten zusammen, wir sprachen auf Englisch über Dinge, die unsere Eltern nichts angingen und wir verstanden uns immer sehr gut – für Schwestern vielleicht manchmal zu gut!?
Am Frühlingsfest, Anfang Februar, lernte ich nun auch die ganze Familie kennen und es war eine Woche, die echt … besonders war! Eine Woche, die hauptsächlich aus Verwandte treffen, reden und essen bestand. Ich bin mir fast sicher, dass ich in keiner Woche meines ganzen Lebens so viel gegessen habe, wie in dieser einen Woche des Frühlingsfestes. Es war ein so wundervolles Gefühl eine große Familie um sich zu haben, in deren Mitte ich saß, ohne die ganze Zeit von allen Seiten angestarrt zu werden. Ich muss sagen, die Familie meiner Gastmutter, mit ihren Eltern, ihrer großen Schwester und ihren vier Brüdern und dessen Frauen und Kindern waren wie eine warme Decke im Winter. Ab diesem Zeitpunkt bin ich immer sehr, sehr gerne zu meinen Gastgroßeltern gegangen, wobei ich immer gehofft hatte, dass viele meiner Tanten und Onkel zu Besuch waren. Bei den Eltern meines Vaters haben wir sonst immer gegessen und besonders meine Großmutter von dieser Seite ist mir sehr ans Herz gewachsen, auch wenn sie mein Chinesisch nicht wirklich verstehen konnte und auch ich musste mir viel Mühe geben, sie zu verstehen, was mir auch erst gegen Ende des Jahres möglich war! Sie kam aus einem Dorf vom Land und in jedem einzelnen Dorf haben sie in der Aussprache irgendwelche Unterschiede. Aber ihre so leckere Küche hat mir immer ein Grinsen ins Gesicht gezaubert und damit war sie völlig zufrieden. Zum Essen will ich diesmal nicht mehr viel sagen, denn sonst schreibe ich wieder Kapitel, weil es einfach so unglaublich gut ist – ich vermisse es sehr und jedem, der einen halbwegs gut verträglichen Magen hat rate ich, die chinesische Küche auszuprobieren! Ein Tipp, wer wirklich China schmecken will, sollte auch nach China gehen und auch wenn die kleinen Garküchen in den Hinterhöfen etwas schmutzig erscheinen, kann es dort vielleicht die leckersten gefüllten Nudeln(Jiaozi) geben oder die Suppe mit den Hühnerfüßen schmeckt genau dort so unglaublich köstlich wie nur an wenigen Plätzen! Natürlich sollte immer auch auf Hygiene geachtet werden – besonders an solchen Orten -, aber wenn viele Chinesen hingehen, dann heißt das auch, dass es verträglich ist und dass man, außer eventuellen Magenbeschwerden, was aber auch einfach nur von der anderen, der chinesischen Küche kommen kann, wirklich nichts zu befürchten hat!
Um zurück zu kommen zu meiner Familie, ich hätte mir nicht ausmalen können, dass es wirklich möglich ist, fremde Menschen nach so kurzer Zeit des Kennens so lieben zu lernen. Sieben Monate voller guter wie schlechter Erfahrungen, aber nun mit einer Säule als Stütze unter mir, was mir wirklich vieles einfacher machte. Wenn ich jetzt an meine Familie zu Hause in China, in Xindu denke, vermisse ich sie so unglaublich sehr. Sie sind einfach so weit weg von mir und ich weiß nicht, ob und wann ich sie wieder sehen kann!? Sieben Monate und auch zehn Monate sind anfangs recht lang, aber wenn sie erst hinter einem liegen, kommt es einem wirklich vor, als währen es ein paar Wochen gewesen – es ging so schnell, ich wollte letztlich nicht glauben, dass wirklich schon alles vorbei sein sollte. So fiel mir der Abschied, besonders von meiner Familie sehr, sehr schwer. Und als ich mich auf den Weg nach Peking machen musste und in Chengdu am Flughafen in die tränengefüllten Augen meiner Schwester schaute, konnte ich nur schwer meine eigenen Tränen zurückhalten! Das war wohl der traurigste Moment in diesem Jahr, welches sich dann dem Ende ganz schnell zuwandte und in dessen Richtung rannte…!

Der Abschied von all dem fiel mir alles andere als leicht. Ich habe mich viel über die schlechte Luft und die große Verschmutzung in vielen Teilen Chinas beschwert. Außerdem war es wirklich nicht leicht, den „Chinesen“ zu verstehen, aber die vielen, die tausenden kleinen Dinge, die mein Jahr in China ausmachten, fehlen mir so sehr. Ich würde gerne jedem, den es interessiert, erzählen und genau beschreiben wie es für mich war dort drüben, so weit weg von hier, in China. Was ich erlebt habe und wie glücklich und traurig ich zeitweise durch dieses Jahr war, aber ich könnte auch mit unendlich vielen Worten nicht beschreiben, wie es war! Ich kann viele Geschichten erzählen, aber das, was ich damals und dabei dachte und fühlte bleibt in mir. Jeder muss es auf seine Weise selbst erleben und dann auch spüren. Es ist traurig, dass niemand all das erleben, sehen, hören, schmecken, spüren…kann und wird, wie ich es erlebt habe – zumindest nicht exakt so, denn es war ein Erlebnis einer ganz, ganz besonderes Art und ich würde jedem, der es sich traut, wünschen, ein solchen Erlebnis einmal in seinem Leben zu erleben! Ich habe lange darüber nachgedacht, aber wenn ich dieses Jahr noch einmal leben könnte, genauso wie es war, würde ich nicht darauf verzichten wollen! Es war leider ein einmaliges Erlebnis und ich will es um alles in der Welt nicht missen. Ich bin im Nachhinein so froh, solche Hürden überwunden zu haben und Schwierigkeiten auf mich genommen zu haben, um schließlich ein solches Abenteuer zu erleben…!

Dieser Bericht sollte nicht unbedingt dazu dienen, Ihnen mein Leben oder einen teil davon zu erzählen. Vielmehr sollte er als Ansporn dienen. Ich will damit Eindrücke verschaffen, Mut machen und klar machen, dass man ein Abenteuer in dieser Form nur dann ganz nachvollziehen kann, wenn man sich selbst auf den Weg macht und solch ein Abenteuer erlebt! Und jetzt weiß ich auch, dass es einem an Mut dabei nicht fehlen sollte!
Ich dachte mal: „Auslandsjahr – das ist das Richtige für mich, ist ja nicht viel dabei!“ Aber eben genau das war falsch gedacht. Es ist so viel mehr dabei…! Mit Worten ist es mir gar nicht möglich dies zu beschreiben. Es ist wie, wenn man versucht jemandem, der keine Gefühle hat und nicht weiß, was Gefühle sind, zu erklären was und wie es ist zu fühlen…!
Deshalb gebe ich Eindrücke weiter und möchte nicht versäumen zu sagen, dass jedes Abenteuer etwas Gutes hat, vielleicht ein „Happy End“ oder irgendwo einen Schatz verbirgt, aber um dort hinzukommen, muss man einige Hindernisse überwinden und man kann dabei so leicht am versagenden Mut scheitern! China ist für mich einfach nur als „Abenteuer“ zu beschreiben, ein anderes Wort finde ich nicht, um zu sagen, dass es auf jeden selbst ankommt, was und wie er die Dinge erlebt. Bei Abenteuern ist die Geschichte offen, was passiert und was wird, kann jeder für sich bestimmen. Zu leben ist das einzige, was als Inhalt dabei vorgegeben ist…