Andrea Herterich
Vor über einem Jahr war ich es, die die AFS-Seite nach irgendwelchen Informationen über das Land, in dem mein Austausch stattfinden sollte – Brasilien, suchte, um bestmöglich vorbereitet zu sein. Genau deshalb möchte ich jetzt etwas von meinem Austausch, aber vor allen Dingen Brasilien, berichten, um den Hopees den Kulturschock etwas zu erleichtern oder einfach ein paar Vorurteile zurechtzurücken.
Zunächstmal möchte ich mich für mein etwas eingerostetes Deutsch entschuldigen – aber nachdem ich mich nun beinahe 10 Monate ausschließlich auf – am Anfang noch englisch – und portugiesisch unterhalten habe, hab ich eine gute Ausrede für Rechtschreibfehlerchen und vermurkste Satzkonstruktionen 😉
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, denn jeder der letzten 304 Tage war ein kleines Abenteuer für sich, mit jeder Menge Erfahrungen; leider muss ich auch gestehen, dass für mich bereits so viele Kleinigkeiten zum Alltag geworden sind, dass ich sie möglicherweise vergesse zu erzählen.
Am 1.August 2007 kam ich nach einem langen Flug von München nach São Paulo, einer kurzen Nacht in einem Hotel und zwei weiteren Flügen in Tocantins – Palmas an. Tocantins ist ein sehr junger Staat Brasiliens, gerade mal vor 18 Jahren wurde er gegründet, genauso wie seine Hauptstadt Palmas. Deshalb war ich auch erst die 5. Austauschschülerin von AFS, die Tocantins jemals besucht hatte. Was ich damit sagen will – es gibt nicht viele Leute in Tocantins, kaum Städte und schon gar keine mit nennenswerter Größe und wer einkaufen möchte, muss weit reisen. Nur um ein Beispiel zu nennen: Im gesamten Staat (der größer ist als ganz Neuseeland) gibt es nur einen einzigen Buchladen.
Es ist heiß in der Mitte Brasiliens, die Durchschnittstemperatur liegt bei ca. 28 Grad Celsius – ohne dass irgendein Lüftchen gehen würde. Für uns eine unvorstellbare Hitze.
Dort, in der Hauptstadt Palmas wurde ich von zwei lieben AFS Betreuern abgeholt, da meine zukünftige Gastfamilie leider nicht kommen konnte. Ich wurde gleich offen mit Umarmungen und Kuesschen begrüßt – am Anfang noch etwas ungewohnt, gab mir aber sofort ein Gefühl des Willkommen-Seins.
Nachdem wir uns kurz in einem Restaurant gestärkt hatten, machte ich schon die nächste Entdeckung: Was es bedeutet, in Brasilien zu reisen. Noch dazu in einem Bus ohne Klimaanlage. Die Strassen in Brasilien sind endlos und gerade, kilometerweites Niemandsland. Vier Stunden rumpelte der alte Bus über die niemals enden wollende Strasse – hier ist das ein Katzensprung.
Schließlich kam ich in Gurupi an, das meine Heimatstadt für die nächsten 11 Monate werden sollte. Daisy, die AFS-Betreuerin, die mich von Palmas abgeholt hatte, spricht fließend englisch (!) und machte mir das Kennenlernen meiner Gastfamilie und vieler fremder Menschen, die bald meine Freunde werden sollten, leicht. Unter anderem eine andere japanische Austauschschülerin, Mana, die ich schon gleich am ersten Tag in mein Herz geschlossen hatte; sie war mit der Winterabreise nach Gurupi gekommen und lebte in Daisys Familie.
Meine Gastfamilie bestand aus Gastmutter Joselma, eine winzige energische „morena“ aus dem Nordosten Brasiliens, meiner 13-jährigen Gastschwester Isadora und Gastvater Santos. Ich muss gestehen, dass der erste Tag der Schlimmste war.
Ich war müde von der langen Reise, es gab zu viele Leute, die mich kennenlernen wollten und ich wurde beinahe erdrückt von all den fremden Dingen, die es zu bestaunen gab. Als ich dann auch noch in unserem winzigen Häuschen ankam, kam ich mir plötzlich sehr verlassen vor. Da stand ich nun mit meiner Gastschwester und meiner Gastmutter, zwei Fremden, und wollte am liebsten nur nach Deutschland telefonieren.
Aber es wurde bald besser. Nachdem ich eine Nacht geschlafen hatte, war ich voller Tatendrang und offen für das mir bevorstehende Abenteuer. Meine Gastfamilie stellte sich zwar schnell als eine alles andere als glückliche Familie heraus, aber das überschattete meine neue Welt kaum. Ich lernte zwei andere Mädels kennen, die mit mir in Gurupi unsicher machen sollten: Reem aus Neuseeland und Gaëlle aus Belgien. Ich war froh, zwei andere „Neulinge“ zu haben und ich muss gestehen, dass es tatsächlich sehr viel erleichtert hatte. Wir Vier, Mana, Reem, Gaëlle und ich wurden unzertrennlich und erforschten diese neue, seltsame Welt zusammen.
Tja, jetzt kommt der Teil in dem ich von den Kuriositäten Brasiliens erzählen wollte, aber dieser Bericht wird definitiv zu lange, wenn ich hier auch nur einen Bruchteil meiner Eindrücke niederschreiben würde. Trotzdem, ich fang einfach mal an.
Gurupi ist nicht wirklich das, was man sich vorstellt, wenn man an Brasilien denkt. Es ist eine kleine Stadt, in der es zwar heiß „pra caramba“ ist, aber sie liegt tausende Kilometer von dem Meer entfernt. Partys gibt es kaum in diesem verschlafenen Nest und überhaupt – die gesamte Kultur ist so viel anders, als uns die Medien weismachen wollen. Die brasilianische Familie – auch wenn ich gestehen muss, dass ich auf diesem Gebiet kein sonderlicher Experte bin, da ich von meiner Gastfamilie ein äußerst … verdrehtes Bild einer Familie bekommen habe – ist eine sehr enge Einheit. Vor allem die Mutter wird sehr respektiert, um nicht zu sagen verehrt. Das war eine der Lektionen, die ich gleich am Anfang lernen musste.
Die meisten brasilianischen Familien haben auch ein Dienstmädchen, das wäscht, kocht und putzt. Diese Frauen werden erbärmlich für die harte Arbeit bezahlt – umgerechnet vielleicht 100 Euro im Monat. Überhaupt gibt es hier für alles jemanden, den man für die „Drecksarbeit“ bezahlt. Gras schneiden und bewässern, Bäume ausschneiden, Pool reinigen, Nägel machen lassen, Zimmer aufräumen, Computerprobleme beheben, Kleidung ausbessern… eine Familie, die ausreichend Geld hat, findet für alles einen Heini.
Zu essen gibt es jeden Tag Reis und Bohnen mit einer großen Portion Fleisch. Daran musste ich mich erstmal gewöhnen… Aber mittlerweile schmeckt es mir sogar. Überhaupt ist das Essen hier sehr variiert. Man schaufelt sich alles zusammen auf den Teller: Reis, Bohnen, Nudeln, Fleisch, Kartoffelpüree, Fisch, Pommes… mein Gastvater isst sogar Suppe mit kalten Reis und Bohnen *lach* Aber es gibt immer, wirklich immer, Reis mit Bohnen. Dafür kann ich mir aber, wenn ich Lust auf frische Kokosnussmilch habe, einfach in den Garten gehen und mir eine pflücken.
Auch die Früchte hier sind einfach unglaublich. Probiert unbedingt mal einen „Açaí“, am besten mit morango (Erdbeere) oder banana.
Die Schule war für mich auch eine extreme Erfahrung, obwohl ich das Glück hatte, auf eine „escola particular“, d.h. eine Privatschule gehen zu können. Zunächst einmal die Lehrer, denen gegenüber sich die Schüler total respektlos verhalten, haben, wenn man Glück hat, die Uni besucht. Im Klassenzimmer herrscht totales Chaos – die Mädels feilen sich unbekümmert die Nägel, während die Jungs mit Papierbällen schmeißen, sich gegenseitig vollmalen und überhaupt recht kindisch verhalten. Da ich letzt eine verwunderte mail bekommen hab, ob bei mir „auch Ventilatoren im Klassenzimmer seien“, füge ich jetzt noch hinzu, dass es natürlich eine Klimaanlage und Ventilatoren gibt, sonst würde man es ja keine Sekunde in der Schule aushalten. Übrigens auch in der Kirche, im Einkaufszentrum und überhaupt in jedem größeren Zimmer/Saal.
Jetzt könnte ich noch unglaublich viele Sachen anführen, die Armut zum Beispiel, brasilianische Musik, wie die Menschen hier auf eine weiße Blondine reagieren oder Kleinigkeiten, zum Beispiel was es bedeutet in Brasilien zu duschen, warum man Acht geben muss, auf dem Buergersteig zu laufen, die Restaurants oder das verrückte Verkehrssystem erklären (…); aber ich denke, wer tatsächlich interessiert ist und einen langen Atem hat, schreibt mir einfach eine mail (fragt bei Brigitte nach der Adresse).
Aber nun zurück zu meinem Leben als Austauschschülerin.
Es dauerte nicht lange, bis ich mich schon einigermaßen in Portugiesisch ausdrücken konnte. Es passierten zuhauf lustige Missverständnisse, aber da hilft nur eins: Über sich selbst lachen können.
Im November, also drei Monate nach meiner Ankunft, machte ich meine erste, von AFS arrangierte Reise ins Pantanalgebiet. Der Pantanal ist ein riesiges Sumpfgebiet Brasiliens, und ich erlebte mit vielen anderen Austauschschülern echt unvergessliche Sachen. Ich streichelte Krokodile, hatte eine Schlange um den Hals, schnorchelte in eisklarem Wasser… es war eine wirklich schöne Zeit, vor allem war es auch toll, alte Bekannte wieder zu treffen und neue Freunde zu finden.
Im Januar reiste ich schon wieder – diesmal mit einer befreundeten Familie. Mit dem Auto ging’s in den europäisch beeinflussten Süden Brasiliens, zunächst in die Städte Curitiba und Blumenau (beide von Deutschen gegründet) und ich aß nach langer Zeit mal wieder Sauerkraut mit Würstchen und Kartoffelsalat. Danach ging’s weiter auf die Insel Florianopolis, in der ich das touristische Brasilien kennenlernte (anders ausgedrückt: Ich lümmelte mich die meiste Zeit am Strand).
Ende Januars flogen Mana und Reem heim, was mich ziemlich traurig machte – durch die „Extremsituation“ unseres Austausches waren wir schnell sehr gute Freundinnen geworden. Trotzdem versuchte ich mich an das zu halten, was ich in diesem Jahr gelernt hatte: Mach das Beste aus der Situation. Egal ob gute oder schlechte Erfahrung, du lernst was dabei!
Im Februar ging die Schule nach fast zweimonatiger Pause wieder los und ich sah endlich wieder meine Freunde, die ebenfalls verreist waren.
Im März hatte meine befreundete Familie – die schon bald meine „Ersatzfamilie“ geworden war, wieder einen Urlaub geplant und ohne große Umschweife ein Flugticket für mich mitbestellt. Diesmal ging es nach Rio de Janeiro, „a cidade marvilhorsa“ (die wundervolle Stadt). Und das ist sie wirklich. Rio ist wunderschön, mit den Hügeln und den langen Stränden, der Christutsstatue, dem „pão de açucar“, so vielen anderen Attraktionen aber auch den „favelas“ (Art Ghetto), dem traurigen Teil der Stadt. Wir blieben nur vier Tage und ich konnte kaum einen Bruchteil der Millionenmetropole besichtigen, aber dennoch war es eine tolle Erfahrung.
Doch schon einen Monat später entschloss sich Gaëlle, die Belgierin, nach Hause zu fliegen und ich war plötzlich „allein“ in Gurupi. Aber ich stellte schnell fest, dass man sich in Brasilien schon in einen Glaskäfig einsperren muss, um allein zu sein. Dieses Volk ist einfach zu offen, zu herzlich und zu wohlgesonnen, als dass hier jemand einsam werden könnte.
Mitte April traf ich nach langem Hadern mit mir selbst die Entscheidung, meine Gastfamilie zu wechseln. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, denn es ist unmöglich, eine solche Entscheidung zu treffen, ohne Menschen zu verletzen, aber im Nachhinein kann ich sagen, dass es die beste Lösung – und nicht nur für mich – war.
Eine befreundete Familie (mit der ich nach Florianopolis und auch Rio gereist bin) nahm mich mit offenen Armen auf und jetzt bin ich sehr glücklich und zufrieden hier.
Ich muss sagen, dass ich in meinem gesamten Austauschjahr keinen einzigen Tag erlebt habe, in dem ich mich nach Deutschland gewünscht hatte oder gar meine Entscheidung zu diesem Jahr bereut hatte. Ich denke, dass ich reifer geworden bin, mehr vom Leben verstanden habe und ich bin dankbar, dass ich in dieses wunderschöne Land hineinschnuppern durfte.
Brasilien ist ein riesiges Land, 24-mal größer als Deutschland. Es ist lächerlich zu glauben, das ganze Land zu kennen, wenn man nur einen einzigen Ort besucht hat.
Es ist ein Mix aus Kulturen und Menschen und ich bezweifle, dass ein Leben ausreicht, um all die Wunder dieses Landes zu sehen und vor allem zu verstehen.
Mittlerweile bin ich schon 10 Monate hier und AFS bereitet mich langsam auf meine Heimreise vor. Ich möchte Brasilien nicht verlassen, aber trotzdem weiß ich, dass es an der Zeit ist zu gehen.
Nun hab ich so viel geschrieben, und ich habe immer noch das Gefühl, nicht mal einen Wimpernschlag dessen festgehalten zu haben, was ich hier erlebt habe. Aber es lässt sich mit Worten auch nicht beschreiben, man muss es selbst erleben, fühlen, riechen, hören…